Reproduktion von sozialen Ungleichheiten im Netz – theoretischer Teil
Folgende Aussage aus dem deutschen Familienreport 2017 beschreibt, wie sich die gesellschaftlichen Ungleichheiten auch in der digitalen Welt spiegeln. « Wichtiger aber als der reine Zugang zu digitaler Technik ist, wie Menschen damit umgehen – und umgehen können. Menschen mit unterschiedlichen sozialen Herkünften, Bildungserfahrungen, Ressourcen oder unterschiedlichen Geschlechts nutzen das Internet und digitale Medien verschieden. Gesellschaftliche Ungleichheiten und Benachteiligungen können sich durch Digitalisierung auch aufbauschen und potenzieren“ (BMFSFJ 2017, S. 89). Wer wenig Zugang zu Bildung hat – unabhängig davon ob in der Herkunftsfamilie und den Bildungsinstitutionen – hat auch weniger Zugang zu Informationen im Netz. Es scheint, als ob sich die Aussage des französischen Soziologen Pierre Bourdieus, die er über die sozialen Ungleichheiten im Bildungssystem gemacht hat, auch im Umgang mit den Sozialen Medien spiegeln. Annelie Stompe beschreibt in ihrem Artikel «Armut und Bildung: PISA im Spiegel sozialer Ungleichheit» eine Untersuchung von Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron: Sie beschreiben die komplexen Mechanismen des gesellschaftlichen Ausschlusses, die ihre Umsetzung in den Bildungsinstitutionen finden. Die im Rahmen ihrer Analyse entwickelten Thesen sollen erklären, wie soziale Tatbestände – also soziale Ungleichheit – in der Praxis der Bildungsinstitutionen in natürliche – individuelle Kompetenz und Intelligenz der Schülerinnen und Schüler – umgedeutet werden. Die Leistungen der Heranwachsenden werden demnach von diesen und ihren Lehrern entweder der „unmittelbaren Vergangenheit“ zugeschrieben – beispielsweise den Effekten des Unterrichts – oder aber der Begabung oder der Persönlichkeit“ (Bourdieu/ Passeron zit. in Stompe 2005, S. 135).
Horst Niesyto frägt in seinem Artikel „Digitale Medien, soziale Benachteiligung und soziale Distinktion“ in Anlehnung an die Theorien von Bourdieu nach, in wie weit „Formen von Benachteiligungen auch im Bereich der Mediennutzung zu beobachten [sind]?“ (Niesyto 2009, S. 5). Der Autor unterscheidet die digitalen Ungleichheiten einmal in Form von Zugang und in Form von Nutzungsmöglichkeiten, wobei er sich auf verschiedene in Deutschland durchgeführte Studien bezieht. Niesyto vertritt die Ansicht, das „Medienkompetenz – Konzepte“ verstärkt berücksichtigen sollten, wie Menschen in ihren jeweiligen Lebenslagen Medien nutzen und welche Medienkompetenzen sie dabei ausbilden. „Entgegen der o.g. Vereinseitigungen geht es um ein Verständnis, das die wechselseitige Verwobenheit von individuellen Handlungsmustern und gesellschaftlich-medialen Angebotsstrukturen im Blick hat und – in handlungstheoretischer Perspektive – die Verarbeitungsleistungen der Subjekte (persönliche, ‹innere› Ressourcen) in Zusammenhang mit den jeweils vorhandenen sozialen Lebenslagen und Anregungsmilieus (als ‹äussere› Ressourcen) betrachtet“ (Niesyto 2009, S. 13).
Der Autor argumentiert, dass unterschiedliche Mediennutzung und -sozialisation in erster Linie auf unterschiedliche Präferenzen und sozial-ästhetische Muster verweisen und nicht in erster Linie auf Aspekte sozialer Benachteiligung. Aspekte sozialer Ungleichheit, so Niesyto, kommen dann zum Tragen, wenn es um vorhandene innere und äussere Ressourcen zur Bewältigung von Problemen in der Kommunikationskultur geht. Solche Problemlagen werden mit Schwierigkeiten der Orientierung zwischen der Arbeits- und Medienwelt, in der oberflächlichen Wahrnehmung von Inhalten oder bei Schwierigkeiten, sich zwischen vielen Optionen zu entscheiden, definiert. Ob sich die Jugendlichen reflexiv mit diesen Themen auseinandersetzen (können), sieht er in der familiären und schulischen Sozialisation begründet. „Es gibt aber sehr viele Kinder und Jugendliche, die weder im Rahmen der familiären noch der schulischen Sozialisation hinreichend Anregung und Förderung für einen reflektierten Medienumgang erhalten“ (Niesyto 2009, S. 14). Um auf Bourdieu zurückzukommen, sind es also die Denkschemata und ausgebildeten Präferenzen, die die Wahl der jeweiligen sozialen Medien bei Jugendlichen mitbestimmt und der Umgang mit Medien wird – wie der Umgang mit Geld, Bildung, Kultur etc. – milieuspezifisch erlernt. Niesyto fordert, dass medienpädagogische Konzepte und Förderangebote in der schulischen Bildung ausgebaut werden sollen, um die Medienkompetenzen von Jugendlichen zu vertiefen. Sie müssen allerdings an den alltäglichen Medienerfahrungen von Jugendlichen ansetzen, damit diese erreicht und motiviert werden können. „Die Förderung der Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen aus benachteiligten Sozialmilieus setzt qualifizierte Pädagogen/-innen voraus, die über eigene Medienkompetenzen, über ein Wissen zum Sozialisationshintergrund von Kindern und Jugendlichen sowie über geeignete gruppenpädagogische und methodisch-didaktische Qualifikationen verfügen“ (Niesyto 2009, S. 15).